Frankreich träumt von Schweden (DIE WELT,13/09/2006)

Publié le par François Alex

DIE WELT.de

 
Essay
Frankreich träumt von Schweden
Di 12. September 2006

Die Angst vor der Globalisierung lässt Pariser Politiker im schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell den Rettungsanker suchen.

Von Wolf Lepenies

Am 17. September wählen die Schweden ihr neues Parlament. Glaubt man ausländischen Kommentatoren, braucht der sozialdemokratische Ministerpräsident Göran Persson um seine Wiederwahl nicht zu bangen. Das Land wird mit einem First-Class-Hotel verglichen, das sich alle Bürger leisten können, es zählt zu den weltweiten Gewinnern der Globalisierung, und der englische "Guardian" nennt Schweden die erfolgreichste Gesellschaft, welche die Geschichte je gekannt hat.

Die außerordentliche Stabilität der schwedischen Demokratie und die ungewöhnliche Reformfähigkeit der schwedischen Gesellschaft erregen ebenso viel Bewunderung wie Neid. Als Schweden Anfang der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts die schwerste ökonomische Krise seiner Geschichte durchlebte, war vom Ende des "schwedischen Modells" die Rede. Voreilig, wie sich bald herausstellte. Denn aus dieser Krise ging die Wirtschaft des Landes gestärkt hervor: Die jährliche Wachstumsrate pendelte sich bei drei Prozent ein, und der Produktivitätszuwachs der Industrie lag mit 2,1 Prozent pro Jahr erheblich höher als in den anderen Ländern der EU und den USA (1,5 Prozent). Von 1993 bis 1997 reduzierte sich die Staatsverschuldung von 12 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und verwandelte sich in den darauffolgenden Jahren in einen Überschuss. Jetzt war vom "neuen" schwedischen Modell die Rede - erneut im Ton der höchsten Bewunderung.

Im gelobten Land klingen die Stimmen gedämpfter. "Kann das schwedische Modell noch funktionieren?" ist nicht nur der Titel eines schwedischen Bestsellers, sondern die Frage, die kurz vor den Wahlen in allen politischen Lagern gestellt wird. Außerhalb Schwedens erregt diese Debatte in einem Land offenkundig ein besonderes Interesse: in Frankreich. Die Monatsschrift "La Vie des Idées" stellt ihre komplette Septemberausgabe unter den Titel "Schweden zweifelt an seinem Modell". Bei der Zeitschrift handelt es sich um das Sprachrohr des Thinktanks "La République des Idées", der von dem einflussreichen Historiker und Professor am Collège de France, Pierre Rosanvallon, begründet wurde. Rosanvallon gehört zur "reformistischen Linken", deren Hoffnungsträger einst Michel Rocard war. Heute gilt "La République des Idées" als wichtiger Stichwortgeber für Ségolène Royal, die Favoritin der französischen Sozialisten für die Präsidentschaftswahl im Jahre 2007.

Die Auseinandersetzung mit dem "schwedischen Modell" verrät etwas über innerfranzösische Probleme; der Blick nach Norden ist auch ein Blick in den französischen Spiegel. Das "schwedische Modell" beruhte auf zwei historischen Kompromissen, die in den Dreißigerjahren geschlossen wurden und über Jahrzehnte den Wohlstand und die Stabilität des Landes bewirkten. Es waren die Kompromisse zwischen Arbeit und Kapital sowie zwischen der Arbeiterklasse und dem Mittelstand; zugrunde lag ihnen ein nationaler Konsens zur einvernehmlichen Regelung sozialer Konflikte. Ist dieser Konsens durch die Prozesse der Globalisierung bedroht?

"La Vie des Idées" zeichnet ein widersprüchliches Bild: Den Erfolgen des schwedischen Modells in der Vergangenheit steht seine Krise in der Gegenwart gegenüber. Auch in Schweden reduziert das ökonomische Wachstum die Arbeitslosigkeit nicht. 60 Prozent der jungen Schweden glauben, dass sie erhebliche Einschnitte in den Sozialleistungen werden hinnehmen müssen. Dennoch behauptet sich der Wohlfahrtsstaat "à la Suède" unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung - wenn er in der Lage ist, auf diese Bedingungen flexibel zu reagieren. Auf einem hohen Niveau sozialer Sicherheit sind die Bürger noch am ehesten zu Einschnitten bereit, wenn diese das System nicht in seiner Grundlage in Frage stellen.

Fixiert auf die Konfrontation Ségolène Royals mit ihren männlichen Konkurrenten in der eigenen Partei und mit dem konservativen Innenminister Sarkozy ("Ségo" vs. "Sarko"), übersieht man leicht, dass sie eine risikoreiche politische Strategie verfolgt. Ziel ist eine "Sozialdemokratisierung" der Sozialisten. Schon Michel Rocard hatte diese Strategie verfolgt - und war damit gescheitert. Es geht zum einen darum, die Sozialisten und die ihnen nahe stehenden Gewerkschaften zu einer realitätsnäheren Politik jenseits der Klassenkampfrhetorik zu bringen. Zum anderen geht es darum, den Franzosen die Furcht vor der "mondialisation" zu nehmen. Für beide Ziele bietet sich der Hinweis auf Schweden an. Der schwedische Wohlfahrtsstaat ist in die Krise geraten - und behauptet sich durch die Bereitschaft der Bürger zum Verzicht und den Willen zur Flexibilisierung eingespielter Strukturen.

Ob die Mehrheit der Franzosen dazu bereit ist, steht auf einem anderen Blatt. Immer noch prägt die Auseinandersetzung zwischen "Hof" und "Straße" das öffentliche Leben; eine pseudorevolutionäre Rhetorik verhindert die notwendigen Reformen; von einem grundlegenden Konsens der Sozialpartner ist das Land weit entfernt.

Die "Republik der Ideen" lässt mit dem Blick auf Schweden erahnen, vor welchen Veränderungen Frankreich nach einem Wahlsieg von "Ségo" stehen könnte.

Artikel erschienen am 13.09.2006

Publié dans MODELES NORDIQUES

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